Stadt Klausur

 

Drei bläulich-weiße Lichtbündel ragen vertikal in den Nachthimmel über Frankfurt am Main. Nach Sonnenuntergang werden sie zunehmend immer sichtbarer. Sie wirken irregulär zueinander angeordnet, leuchten von unten hinauf hell und verblassen in der Höhe. Sie scheinen von drei Orten im Stadtzentrum auszugehen. In der Nacht bieten sie zusammen mit den teils beleuchteten, teils dunkel spiegelnden Bankentürmen ein stilles, nichtsdestotrotz erhaben anmutendes Schauspiel von monomentalem Ausmaß. Als temporäre Erscheinung ergänzen sie so die Skyline, verändern die Ansicht des ikonischen Markenzeichens der Bankenmetropole, von dem die Touristen von den Brücken des Mains aus jeden Tag unzählige Bilder mit ihren Fotoapparaten einfangen. Nicht wenige werden auch Levents Kunts Arbeit fotografiert haben, die bei gutem Wetter aus einer Entfernung bis zu 30km sichtbar war. – Aber was haben sie gesehen? Haben sie sie als künstlerischen Eingriff erkannt? An was dachten die Frankfurter selbst beim Anblick der drei Strahlen? An den Verweis auf ein Bankevent, ein Festival, eine neue Diskothek, eine Kirchenbeleuchtung oder den Strahl eines Ufos? Die Herkunft der Strahlen ist für den in Kunts Situation hereingeratenden Betrachter unsicher, ihre Bedeutung noch umso mehr.

Levent Kunt nimmt mit seiner Arbeit für das Projekt Stadt_Klausur der Evangelischen Akademie Frankfurt einen minimalen-maximalen Eingriff vor. Seine Mittel sind reduziert und anonym, sie entstammen ähnlich wie Daniel Burens auf 8,7 cm genormte Markisenstoff-Streifen dem industriell hergestellten Mobiliar des urbanen Raums. Formal reduziert lassen sie auch an die Minimal Art denken, jedoch kehren sich Kunts Werke den noch deutlicher vom Objekthaften ab. Drei Skybeamer hat Kunt für seine Arbeit an den Orten der ehemaligen Stadtklöster installiert: dem Karmeliterkloster, dem Dominikanerkloster und dem Kapuzinerkloster Liebfrauen. Nur das letztere wird heute noch als Kloster genutzt. Nicht die Strahler sind die Arbeit, sondern ihre Strahlen im örtlichen Kontext. Hätte die Flugsicherung des Flughafens Frankfurt nicht die Genehmigung für die Installation erteilt, wäre vermutlich kein Werk von Kunt im Rahmen der Ausstellung zu sehen gewesen. Der Künstler hat die Klöster in Spaziergängen durch die Stadt besucht, dort Menschen beim Beten zugesehen. Er entschied sich gegen jeglichen Eingriff in die Klosterräume, der sie zu Kunstorten – Orten seiner Kunst – erklärt hätte. Laut Buren bestimmt die Situierung einer Arbeit ihre Wirkungsgrenze. Kunts Lichtsäulen greifen nahezu maximal räumlich aus, sie strahlen in den Stadtraum, in den Himmel, bis sich ihr Licht ins All „versendet“. Mit dem Medium Licht, das die moderne subjektive, durchlässige Raumdefinition der Avantgarden prägte, schafft Kunt einen temporären Raum im Stadtraum. Die Raumkonstellation der Säulen markiert sich nicht als Besitz oder Schöpfung von Levent Kunt, nicht als Besitz der evangelischen Kirche. – Dieses Kunstwerk realisiert sich eindeutig erst im Auge der Öffentlichkeit, des Betrachters. Ähnlich wie die weiße Tortenschachtel, die Kunt in Ludwigshafen aufstellte, fordern die Strahlen auf, sich zu ihnen ins Verhältnis zu setzen.
Im Kontext der aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit gerückten Klöster, auf welche die Arbeit wie ein Index verweist, ist sie zweifellos ein Spiel mit der christlichen Lichtmetaphorik (die heilige Dreifaltigkeit, das Licht Gottes durch das Kirchenfenster, Transzendenz). Die Lichtsäulen lenken die Aufmerksamkeit jedoch nicht nur auf die Klostergebäude, sondern als ungewohnte Verrückung im gewohnten Stadtbild vielmehr auf ihren Umraum. Indem die Arbeit offen in die außerästhetische Realität des Stadtraums greift, verweist sie auf den größeren Diskurs um öffentliche Orte, ihre Sichtbarkeit, ihre soziale Dimension und Bedeutung für den Einzelnen, auch auf deren Vereinnahmung und zunehmende Privatisierung. Säulen werden in der Kunsttheorie traditionell als Beiwerk betrachtet. Sind die Hochhäuser oder gar der Himmel über ihnen das Hauptwerk, auf das sie verweisen? Oder bilden die Lichtzylinder vielmehr ein Ensemble mit den Wolkenkratzern? Wie verteilt sich die Aufmerksamkeit im Stadtraum ökonomisch? Kunts Arbeit deutet auf eine uns heute zumeist unbekannte Ortsprägung. Klöster waren einmal Orte der Klausur, ein Refugium für jeden. Situiert in Frankfurt hat Kunts immaterielle Lichtinstallation die resistente Note eines autonomen, weitreichenden Widerscheinens gegenüber den Bankenhochhäusern.

Kunt analysiert urbane Orte, die Architektur, die sie definiert. Seine Kunstwerke sind oftmals als abstrakte Imitationen, Doppelgänger von prominenten Elementen des vorgefundenen Zeichensystems der jeweiligen Stadt. Ohne einen erkennbaren Ursprung wirken sie als verunsichernde Irritation. Mal kommen sie als schelmische Streiche daher, fast immer auch als etwas Un-heimliches im scheinbar Vertrauten. Was darf oder kann (s)ein Kunstwerk, scheint Kunt mit seiner Kunst als Frage auch aufzuwerfen. Ist die Kunst Dekoration, wie Buren sie denkt? Ist sie auch Intervention, darf oder soll sie eine Funktion – ebenso wie die anderen Elemente des Stadtraums – erfüllen? Sicher ist Kunts Arbeit durch und durch Installation, wie sie Juliane Rebentisch definiert. Sie verweist durch ihre Unabgeschlossenheit auf Grenzen und Kontext, wirft uns immer wieder zurück auf unseren subjektiven Blick und unser Bedürfnis nach eindeutigem Sinn, Selbstversicherung – und Glauben. Sie erinnert dabei auch an das oberflächliche, sirenenhafte Glauben-machen-wollen von Leuchtreklamen. Können wir unseren Augen trauen? Die Arbeit selbst war  – wie die Wolkenreflektionen auf den gläsernen Hochhäusern – in ihrer Ansicht immer in Flux. Nach drei Wochen war sie verschwunden. Nun sieht die Skyline wieder aus wie zuvor, sich weiter verändernd.

Text: Juliane Duft/ Museum Angewante Kunst, Frankfurt am Main/ 2016