State of the City

 

Drei Monate hat Levent Kunt in der am Hafen Rotterdams gelegenen Künstlerresidenz Charlois aan het water verbracht. Das Erscheinungsbild des Hafens ist geprägt von Maschinen, Fahrzeugen und zweckmäßigen, schmucklosen Gebäuden. Das Rauschen von Wind und Wasser konkurriert mit Maschinengeräuschen, Möwen kreischen, Taue knarren und Hühner gackern. Moment, das Gackern passt aber nicht hierher. Genau so wenig wie das Huhn, das plötzlich hinter einem flachen Industriegebäude hervorkommt, welches die Kamera Levent Kunts so lange fixiert hatte, dass ich mich gerade zu fragen begann, welche Gründe es für das Verharren geben könnte. Das 10-minütige Video Dokumentation von Levent Kunt zeigt zunächst Schiffe, Maschinen, Gebäude und schließlich ein Huhn. Im Folgenden sind weitere Hühner zu sehen, die sich ungestört an Baggern vorbei bewegen, durch Zäune schlüpfen, picken und scharren. Schließlich sieht man auch den in einer Garage untergebrachten Hühnerstall (daneben liegt die 2016 eingerichtete Künstlerresidenz) und den Besitzer Azad Arif, der gerade den Stall säubert. Bereits an seinem ersten Wohnort im Norden des Irak hatte er Hühner gehalten, seit den 1990er Jahren lebt er in Rotterdam und hat die Zucht hier wieder aufgenommen.

Diese Eindrücke: die Industrielandschaft des Hafens, die Geräusche, die Hühner, Begegnungen mit Azad Arif, der Austausch über die Hühner und den Ort gingen ein in Levent Kunts Sammlung – nicht im Sinne einer Bildersammlung, sondern einer Atmosphären- und Prozess-Sammlung oder vielleicht eher -Beobachtung. Da seine Skulpturen, Sound-Arbeiten, Videos und architektonischen Interventionen meist auf gefundenen Materialien und Situationen beruhen oder Handwerkszeug bieten, um Räume zu verändern – sie anders zu strukturieren, zu benutzen und wahrzunehmen – gehört es zur künstlerischen Arbeit Levent Kunts, Umgebungen, Situationen und Atmosphären zu beobachten. Er reagiert auf räumliche und soziale Gefüge, indem er Material sammelt und neu gruppiert, bisweilen etwas hinzu fügt, Komponenten verschiebt, sich zu ihnen ins Verhältnis setzt. Dabei bleibt er nicht bei isolierten Objekten (ihrer Materialität, Farbigkeit und Form) stehen, sondern bezieht ihr Umfeld ein, mit dessen Entwicklungspotenzial seine Arbeiten spielen.

 

So kann etwa eine kaputte Straßenlaterne zur Lichtinstallation werden: Während seines Aufenthalts „reparierte“ Levent Kunt eine ausgefallene Straßenlaterne neben dem Residenzgebäude, indem er bunte Lampen einsetzte und sie mit einer Leitung zum Hühnerstall verband, so dass die Lichter nun immer dann angehen, wenn die Hühner Geräusche von sich geben. Eine solche „Lichtorgel“ befindet sich auch im Frankfurter Ausstellungsraum – die Geräuschquelle befindet sich ca. 450 Kilometer entfernt: im Rotterdamer Hühnerstall. Auch die große Sitzbank variiert eine Skulptur im öffentlichen Raum, genauer auf dem Deich am Maashafen in der Nähe der Künstlerresidenz. Der Deich trennt Hafengelände und Wohngegend. Darauf befindet sich ein großer Stahlrahmen, der einen im hohen Gras gut verborgenen Hydranten markiert. Auf den Rahmen montierte Levent Kunt rot lackierte Holzlatten (mit einem Scharnier versehen, so dass der Hydrant im Notfall zugänglich ist). So entstand eine große Bank, die vom ersten Tag an genutzt wurde. 

 

Ohne unmittelbare Notwendigkeit verwirklichen diese Handlungen Möglichkeiten: der Deich erfüllt seinen Zweck auch ohne Bank, die Laterne muss nicht leuchten, schon gar nicht farbig (und Azad Arif muss keine Hühner halten – er isst sie noch nicht mal). Die nun vorhandene Straßenlaternen-Lichtorgel übersetzt die Anwesenheit der Hühner an diesem für die Hühnerzüchtung mindestens ungewöhnlichen Ort in ein weithin sichtbares Lichtsignal und verweist damit auf Möglichkeiten und Handlungen, die jenseits von zweckrationalen Überlegungen realisiert wurden und direkt mit dem Lichtstrahl zusammenhängen: eine Künstlerresidenz in einem vormals leerstehenden Haus einrichten, Hühner in einer Garage am Hafen halten, eine Lichtshow aus Hühnersounds generieren – etwas schaffen aus dem Vorhandenen und mit dem Vorhandenen (auch: einen Hydrantenzaun in eine Bank verwandeln).

 

In einem Gespräch über die Zeit in Rotterdam erwähnte Levent Kunt die Architektin Jana Revedin, die unter nachhaltigem Bauen versteht, mit dem Vorhandenen so umzugehen, dass die Notwendigkeiten eines Ortes begriffen und seine Potenziale unterstützt und verwirklicht werden. Dies setzt eine beobachtende Haltung voraus, eine langsame Annäherung, der Eingriffe folgen, die mehr öffnen und anbieten als verbauen und vorgeben. Auch die Arbeiten Levent Kunts scheinen mir wesentlich auf dieser Art des Handelns zu beruhen, wobei sie als Werke, die nicht zur angewandten Kunst zählen, die reine Möglichkeit, das Vermögen und den Willen in den Vordergrund stellen, Vorhandenes neu und anders zu denken – und diese Möglichkeiten entsprechend durchspielen.

 

Text: Kathrin Meyer/ Hygiene-Museum Dresden/ 2016